Orgel-Spieltechniken, Küchler-Blessing versus gwm

Sehr geehrter Herr Walcker-Mayer,

Sie schreiben in einem Ihrer Artikel, dass sämtliche von Ihnen befragten Organisten (u.a. Heinz Wunderlich) die Frage, ob man als Spieler das besondere Anspracheverhalten einer mechanischen Kegellade musikalisch für unterschiedliche Klangwirkungen nutzen könne, verneinten. Im selben Artikel beschreiben Sie kurz zuvor, dass die Tonventile bei einer Schleiflade durch den Winddruck „aufgerissen“ werden (und deswegen eine vergleichbar breite Gestaltungspalette gar nicht erst ermöglichen). Aus meiner Erfahrung muss ich Ihnen (und – im ersten Punkt – damit leider auch den vielen ungenannten Kollegen) widersprechen: es gibt durchaus Spieltechniken, mit denen sich in geradezu erstaunlichem Maße der Klang hinsichtlich seiner An- und Absprache modifizieren lässt. Freilich ist da dann geboten, das an vielen Stellen gelehrte und zu beobachtende „Rundstellen“ der Finger bzw. ein Spielen aus den Fingergelenken und damit ein Musizieren mit dem kleinsten „Federweg“ zu vergessen und eher zu einem Musizieren zuzuneigen, mit dem man über unterschiedlichste „Transmissionen“ arbeitet (je nach dem und immer flexibel: mal tatsächlich aus dem Fingergelenk, mal aber auch mit gestreckten Fingern, ganz sensibel auf den Wind- und Federdruck achtend, mal über das Handgelenk, mal über den Unterarm bis hin zum vollen Gewicht aus dem Rücken… und das immer und in sämtlichen Abstufungen). Das funktioniert an mechanischen Kegelladen hervorragend, lässt aber auch geradezu frappierende Klangerlebnisse an – gut in Mechanik und Intonation ausgestalteten – mechanischen Schleifladen zu: praktisch seit Beginn meiner Tätigkeit am Essener Dom ist mir eine große Freude, Laien und Fachleute zu überraschen mit dem großen Ausdrucksreichtum, den ein und dieselbe Registrierung (im Blindtest!) ermöglicht – einfach nur ausgehend von unterschiedlicher Anschlagsqualität. Regelmäßig zeigen dabei im Rahmen des internationalen Orgelzyklus‘ am Essener Dom Organisten wie László Fassang, Nathan Laube, Thomas Ospital und Daniel Beckmann (und viele, viele mehr – ganz bewusst verzichte ich hier auf die Nennung früherer Lehrer), dass solcherlei erwähnte Spieltechnik mitnichten irgendwelche quasi-unseriöse Suggestion ist, sondern schlicht einfach nur: gutes Orgelspiel. Gerne lade ich einmal nach Essen ein, um da entsprechendes aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen. (Dass sich mit einer solchen Spieltechnik übrigens auch das Schwellwerk der Rieger-Walcker in Trossingen durchaus souverän hat beherrschen lassen, sei nur am Rande erwähnt. Roland Eberlein agiert da sehr unprofessionell, wenn er Bossert in einem derart zentralen Punkt angeht, ohne den um seine Meinung zu fragen.) Mit besten Grüßen

Sebastian Küchler-Blessing

Domorganist zu Essen

 

Sehr geehrter Herr Küchler-Blessing,

Haben Sie besten Dank für Ihre hochinteressanten Ausführungen über Spieltechniken an Kegel-und Schleifladenorgeln, die für mich sehr lehrreich sind.

Ich denke, dass Sie in der Schilderung dieser Spieltechniken eine fantastische Art die Orgel zu spielen propagieren, die mich überzeugt haben, dass wir es einfach mit völlig unterschiedlichen Perspektiven der Organisten zu tun haben. So war Wunderlich eher ein  Vertreter einer modernen Spielweise, der einfach von der Orgel erwartete, dass diese möglichst seine klanglichen Vorstellungen vollständig beinhaltet. Das Wichtigste für ihn war bei der Interpretation von Reger eine gut abgestimmte Crescendowalze. Die Idee, dass er mit seinem Spiel an einer Kegellade den Klang modifizieren könne, war ihm völlig fremd. Weswegen er den  Vorschlag machte im Berliner Dom die Pneumatik gegen elektrische Steuerung zu ersetzen. Er übte ja auch ganz intensiv noch im neuzigsten Jahr an seiner elektrisch gesteuerten Hausorgel. Während nun die neuen Generationen, vielleicht kann man diese die postmodernen Interpreten nennen, am menschlichen Körper geschaffene Strukturen in den Interpretationsprozess einbringen, was sicher völlig neue Muster des Orgelspiels offenbaren wird. Es ist aber auch möglich, dass es sich um singuläre Perspektiven handelt, die zwar der Interpret bewusst wahrnimmt, aber der Zuhörer sich verweigert. Insbesondere wenn weitere Filter, wie die der digitalen Beschneidung tiefer ins Geschehen greifen.

Ich habe gestern ein Buch zur Seite gelegt, indem eine meiner stillsten Vermutungen laut und deutlich geäußert wurde: „Es gibt keine Realität, außer die, welche wir in uns selbst schaffen. Wir erzeugen die Realität der Dinge, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten. Unsere Realität existiert nur in der Wahrnehmung.“ Alles dies von Quantenphysikern seit Jahrzehnten geäußert, und die damit gewissermaßen eine Selbstaufhebung ihrer Disziplin bewirken. Denn damit wird gesagt, der Grad der Objektivität ist unendlich schmal. Ob wir Objektivität in der Kunst je finden, das könnte nächtelange Diskussionen hervorrufen.

Was ich damit sagen will, ist, Sie interpretieren nicht nur die Musik vergangener Kompositionen sondern Sie interpretieren auch Ihre Interpretation, zum Beispiel nach einem Konzert. Ihr als Künstler gefundener Weg, die Orgel wesensgerecht zu spielen, bleibt eben auch eine Perspektive. Vielleicht begeistert sie viele junge Organisten, was zu wünschen wäre, dadurch ist aber die andere Perspektive, die der dynamischen Klanggestaltung durch Tastenschlagen kein Interesse entgegenbringt, nicht die Welt des künstlerischen Orgelspiels versperrt. Denn in der Folge würde ja in der Tat Ihre Sicht der Dinge beweisen, dass elektrischen Trakturen den tiefsten Dimensionen künstlerischer Interpretationen kein Zugang gewährt würde.

Es gab und gibt ja genug bekannte Organisten, die gar keine Kenntnis von mechanischen Orgeln hatten, und trotzdem haben diese große Bekanntheit erlangt.

Dennoch muss ich sagen, finde ich Ihren Beitrag ganz toll, weil er gewissermaßen der heutigen Welt der Technik den menschlichen Körper entgegen hält und sagt: da ist noch viel mehr!

Danke und besten Gruß,

Gerhard Walcker-Mayer

 

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